Sonntag, 6. Dezember 2009

Oskar Niedermayer an der TU: Bundestagswahl 2009 und die Folgen

Am 24. November 2009 war Parteienforscher Prof. Dr. Oskar Niedermayer im Rahmen des Seminars "Die Bundestagswahl 2009 und die Folgen" von Prof. Dr. Eckhard Jesse zu einem Vortrag an der Technischen Universität Chemnitz zu Gast.

Zunächst begann er mit der Darstellung der Wahlverhaltensforschung, welche er zur Erklärung des Wahlergebnis zu operationalisieren suchte.
Hierbei stellte er ein kumuliert-modifiziertes Modell aus den drei Ansätzen des sozialpsychologischen Modells, des sozialstrukturellen Ansatzes und der Theorie der rationalen Wahl ins Zentrum und zeigte eine Grafik mit den Elementen "Wahlverhalten", "Parteibindung", "Parteiensystem/Medien", "soziale Verankerung", "Sachorientierung" sowie "Interessen/Werte" und "Kandidatenorientierung".

Er erwähnte Hauptkonfliktlinien des bundesrepublikanischen Parteiensystems: der sozioökonomische Cleavage sowie der libertär-autoritäte Cleavage.
Das Element "Sachorientierung" schlüsselte er u.a. in Issuepriorität sowie -wahrnehmung und mediale/parteipolitische Vermittlung auf; die Kandidatenorientierung in "Kanzler", "Images". Letzteres eröffnete die Batterie "Sachkompetenz", "Führungsqualitäten", "Glaubwürdigkeit" und "Sympathie".

Nach dieser einführenden, aber prägnanten Darstellung der Wahlverhaltensforschung leitete Niedermayer zur Wahlanalyse 2009 mit der Frage über, ob die Wähler eher den/die Kandidaten oder das/die Sachthema/Sachthemen interessierten.
Demnach seien die Sachfragen bei Unionswählern traditionell wichtig; bei der SPD spielte 2002 der Kandidat im Gegensatz zu 2005 mit Abstrichen eine große Rolle. Im Jahre 2009 allerdings seien Sachfragen auch für diese Klientel wichtiger gewesen als die Kandidatenorientierung.

Im Parteiensystem habe sich eine "Westabspaltung" von der SPD wegen der Agenda 2010 in persona WASG ergeben. Der "Markenkern" der SPD sei in der Regierungszeit Gerhard Schröders ausgehöhlt worden.
Die PDS habe hernach die strategisch kluge Entscheidung zur Fusion mit der WASG als Chance zur Westausdehnung gesehen und genutzt; aus heutiger Sicht stehe die neue Partei, "Die Linke", als gesamtdeutsche Konkurrenzpartei zur SPD im Parteienwettbewerb.

Daraus ergebe sich eine "strukturelle Nachteilsposition der SPD" gegenüber der Union.

Die Linke habe sich als "die Sozialstaatspartei" gerieren können und bezeichnete die SPD als "neoliberal".
Dieser Nachteil könne nur durch optimale Konstellationen kurzfristiger Wahleinflussfaktoren ausgeglichen und ausreichend positiv beeinflusst werden.

Die Kandidaten
In der Analyse aufgrund von Befragungen, die auch so oder ähnlich Grundlage weiterer Thesen und Erkenntnisse bot, zeigte sich, dass Angela Merkel, die Kanzlerin und Kandidatin der Unionsparteien, in den Jahren 2005 bis 2009 zu Frank-Walter Steinmeier, Kandidat der SPD, niemals unter den positiven Wert von 1,0 für die Sympathie sank.
Franz Müntefering sei ordentlich gestartet, Matthias Platzeck habe gut gewirkt, Kurt Beck am Ende aber abgestürzt in Gunsten der Wähler, wie er das "lange nicht erlebt" habe.
Daraus entwickelte Niedermayer die Ansicht, der Abstand zwischen Merkel und einem Kandidaten Beck wäre im Wahlkampf niemals aufholbar gewesen, Steinmeier als Außenminister näher an Merkel und der "Putsch", resp. die Absetzung Becks, folgerichtig und notwendig für die SPD. Allerdings habe dies auf Zahlen zu Steinmeier als "Außenminister" und eben nicht als "Kanzlerkandidat" beruht.

Die Kanzlerpräferenz
Merkel sank im gesamten Betrachtungszeitraum niemals unter 50% Zustimmung, das heisst, dass ihr stets die Mehrheit des Elektorats zuneigte. Dies habe sich auch nicht im Wahlkampf geändert, am Ende lag eine Zustimmung von 56% vor.
Steinmeier seinerseits sei niemals über 40% Zustimmung gekommen, der Abstieg habe sich im Wahlkampf zunächst beschleunigt.
Später sei es zu einer Schließung der Schere, vorallem nach dem TV-Duell, in dem Steinmeier besser empfunden als vorher schlechter eingeschätzt wurde, gekommen.
Interessant und auffällig sei, dass die Kanzlerin bei den Anhängern der Union deutlich beliebter gewesen sei, als Steinmeier bei denen der SPD (90% vs. unter 80%).
Der Eigenschaftsvergleich bringe hervor, dass Steinmeier in allen Komponenten besser beurteilt wurde als der Kandidat der SPD, der Vorsprung sei allerdings durch das TV-Duell geschrumpft. "So eine" Kurve habe es in den letzten Wahlen niemals gegeben.

Niedermayer zog die Schlussfolgerung, dass zu keiner Zeit von einer personellen Wechselstimmung auszugehen war.


Die Sachthemen
Das für das Elektorat zentrale und bedeutenste Sachthema sei mit wachsender Tendenz die Arbeitslosigkeit gewesen; anfangs spielte auch die "Finanzmarktkrise" eine Rolle, fiel in der quantitativen Bedeutung allerdings schnell ab.
Weitere Themen waren Bildung und Familie.

In allen relevanten ökonomischen Fragen hätten Vorsprünge für die Union existiert.

Die Europawahl sei von der SPD interpretiert worden, als könne man nicht schlechter Abschneiden und daher auch wenig bessere Ergebnisse als Aufbruchssignal gewertet werden. Es kam aber zu noch schwächeren Ergebnissen.

Im Kern habe, so das Resumee des Vortragenden, in allen Sachfragen eine Kompetenzführerschaft der Union vorgelegen.

Eine weitere These Niedermayers, es gebe auch einen "zu stark betonten Markenkern", machte er an der Union des Wahljahres 2005 fest. Diese sei zu einseitig wirtschaftsliberal und mangelnder Betonung "des Sozialen" aufgetreten.
2009 habe die SPD kaum Wirtschaftskompetenz gezeigt; die "Opel-Rettung" hätte den Steuerzahlen signalisiert, alles würde "auf Teufel komm' raus" gerettet. In der Folge sei zur FDP geneigt worden. Grund dessen sei eine schlechte mediale Vermittlung gewesen.

Der zum damaligen Zeitpunkt verbreiteten These, es gebe eine Aufholjagd, wiedersprach Oskar Niedermayer ex-post.
Das Elektorat sei von einer Großen Koalition als Wahlausgang ausgegangen, da man aber Schwarz-Gelb präferierte, habe man FDP unterstützt.
Diese Auffassung geht zu Jesse konträr, der davon ausgeht, dass Große Koalitionen durch die Wahl kleinerer Parteien eher gestärkt als geschwächt werden.
Im gesamten Wahlkampf habe eine Mehrheit für Schwarz-Gelb vorgelegen (über 50% Zustimmung), eine Ampelkoalition sei goutiert worden und Rot-Rot-GRün eine "realistische Machtoption" gewesen.
Die SPD habe aber die Option mit der Linkspartei aufgrund von Außen- und Sicherheitspolitik, Oskar Lafontaine, Glaubwürdigkeitsverlust post-Hessen, Vorbehalte gegen die Vergangenheit der Partei sowie ebensolcher der eigenen Mitglieder (bis 25% der Mitglieder) ausgeschlossen.

Das Ergebnis der Wahl - Union 33,8%, SPD 23% - sei vor diesem Hintergrund erklärbar.


In der darauf folgenden Diskussion wurde einmal mehr angesprochen und kritisiert, eine soeben konstruierte Koalitionsoption Rot-Rot-Grün habe es nicht gegeben, da ein "Voraussetzungsparadoxon" griffe: Die SPD schloss diese Konstellation aus und auf dieser Basis kam das Wahlergebnis und somit auch die rechnerische Umsetzungschance zustande.

Die SPD sei nicht mehr "die linke Volkspartei" und müsse das anerkennen.

Unter Beifall schloss der Refent den Vortrag und Jesse die Veranstaltung.

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