Donnerstag, 20. Dezember 2007

Partei » SPD-Bundesparteitag Oktober 2007 Partei 04.11.2007 - 17:20

Vom 26. bis 28. Oktober 2007 fand der ordentliche SPD-Bundesparteitag in Hamburg statt.

Am letzten Tage wurde das "Hamburger Programm" mit großer Mehrheit gebilligt, es wurde bereits besprochen .

Aufregung über die Grünen
Da ich alle Parteitage regelmäßig verfolge, zuletzt leider nur auf Phoenix 25 Stunden live, können Vergleiche zwischen der Gründen-SonderBDK, dem CSU-Parteitag sowie dem Hamburger Programmparteitag der SPD gezogen werden.
Der interessanteste Befund betrifft eine wahrgenommene medial perzipierte Asymmetrie: Dass politische Gegner die Regierungsfähigkeit einer Partei nach einem Parteitag bezweifeln ist nicht weiter verwunderlich.
Dass dies aber offensichtlich auch von verschiedenen Medien so wahrgenommen und kommuniziert wird, schon.

Die Grünen hielten ihre Sonder-BDK aufgrund von Initiativen engagierter Parteimitglieder um Robert Zion ab, später wurde ihnen weitläufig die Regierungsfähigkeit abgesprochen.(1) Sie waren aber keine Regierungs- sondern eine Oppositionspartei. Die SPD ist Mitglied der Großen Koalition aus CDU/CSU und SPD.
Die Delegierten des SPD-Parteitages entschieden aber mindestens ebenso häufig gegen ihre Führung wie die Grünen. Allein die öffentliche Bewertung ist eine andere: Während bei den Grünen schon Putschversuche wahrgenommen wurden, regte bei der SPD weniger Aufmerksamkeit.(2)
Dabei sind die Grünen strukturell in keiner besseren Situation als die SPD: Beide werden von der LINKEN bedrängt, die Grünen bangen gegenüber der FDP zusätzlich um ihr bürgerliche Freiheitsrechte garantierendes Profil. Man könnte auch sagen, dass sich die Flügelkämpfe in beiden Parteien verschärfen und herauskristallisieren.

In den Wochen vor dem Parteitag wurde ein Streit zwischen Parteivorsitzendem Beck und Arbeitsminister und Vizekanzler Franz Müntefering zum Arbeitslosengeld I vom Zaun gebrochen.(3)
Viele Medien sehen in der gewollten Verlängerung der Bezugsdauer für Ältere eine Abkehr von der Agenda 2010 Gerhard Schröders, SPD. Kurt Beck und Generalsekretär begegneten dem mit der Sprechart, es sei eine "notwendige Weiterentwicklung".

Um es ganz klar festzuhalten: Die Verlängerung der Bezugsdauer ist keine "Weiterentwichlung", sondern per definitionem eine "Änderung" oder "Korrektur", egal wie man inhaltlich dazu steht. Des Weiteren bleiben von der Agenda 2010 nicht mehr viele Elemente übrig: Auf dem Arbeitsmarkt erwiesen sich Hartz I bis III bis auf Kernelemente zum BA-Umbau als unwirksam(4), die Evaluierung von Hartz IV, der umfangreichen Zusammenlegung von Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe zum Arbeitslosenheld II (ALG II) ist noch nicht erfolgt, auf dem Arbeitsmarkt ist somit nicht mehr sonderlich viel übrig von der Agenda 2010. Die Rente mit 67 ist ein Produkt der Großen Koalition, ebenso Gesundheitsreform, Hochschulpakt oder Föderalismusreform.

Die Wirksamkeit der Agenda 2010 ist im Kern nicht erforscht oder wissenschaftlich evaluiert.
Bis auf Verweis auf heutige Ereignisse, die auch anderen (Teil-)Ursachen haben können, kann dazu verlässlich schlicht nichts gesagt werden. So gibt es zwar eine höhere Quote älterer Erwerbstätiger, doch dürfen bei der Bewertung und Ursachenforschung Variablen- oder exteren Effekte seriöserweise nicht unbeachtet bleiben. So ist die bspw. die Zahl des Arbeitsangebots gesunken.(5)
Manche halte den Agenda-Streit nicht ganz ohne treffliche Anhaltspunkte für ein medial-insziniertes Gewitter bei dem es nur eine win-win Situation aller Beteiligten gibt: Weder Beck noch Müntefering werden materielle Nachteile zuteil.(6) Die SPD dürfte in Umfragen zulegen, ebenso wie Beck. Münteferin kann die Agenda-Befürworter hinter sich vereinigen und die sogenannte "Neue Mitte" für die SPD wenigstens rethorisch halten.

Der Parteitag spiegelte dann in weiten Teilen Dinge wider, welche zumindest nicht der Regierungspolitik der SPD entsprechen.
Ob Teilprivatisierung der Bahn(7) mittels stimmrechtslosen Vorzugsaktien, der FDP-Generalsekretär bewies bei der Bewertung dieser Privatisierungsmethode ein gerütteltes Maß finanzinstrumentarischer Unkenntnis mit seiner Behauptung, dies sei Fortsetzung sozialistischer Denke mit anderen Mitteln, die Verlängerung der Bezugsdauer des Kindergeldes auf 27 Jahre(8), was die Große Koalition auf 25 Jahre begrenzte, ein Selbstauflösungsrecht des Bundestages(9), die de facto Ablehnung eines Familienwahlrechts(10), eine Ablehnung einer Privatisierungen der Autobahnen(11).
Die Grünen wären als Oppositionspartei dafür geprügelt, oder bestenfalls ignoriert worden wie mit ihrem Programm "Energie 2.0"(12).

Ich wurde einmal gefragt, was ich der SPD riete, müsste ich sie politisch beraten. Ich zierte mich ein wenig, plädierte jedoch für eine weitgehende Offenheit nach allen Seiten. Ich begründete dies mit der Grundannahme Deckers u.a., Dreierkoalitionen würden zunehmend wahrscheinlicher, die SPD somit angewiesen entweder auf Gründe und FDP oder Grüne und LINKE. Daran gibt es nichts abzustreichen, das Etablieren der PDS mittels WASG im Westen zur LINKEn hat eine neuerliche Änderung des Parteiensystems bewirkt, die nach guter Politikwissenschaftlicher Theorie gesellschaftlichen Entwicklungen nachlief. Das Auftreten der LINKEn im bundesrepublikanischen Parteiensystem bewirkt eine europäische Annäherung. Die SPD hatte sich in ihrer Regierungspolitik längst von ihrer früheren Stammklientel entfernt; zusammen mit den Grundtendenzen zur sinkenden Parteienbindungskraft, Milleuöffnung etc. führte dies zu einem Rücken in die Mitte mit Entstehen eines Vakuums am linken Rand.

Einige Protagonisten des öffentlichen Spektrums thesieren, die LINKE ginge schon bald wieder in der SPD auf. Hierzu liefern politikwissenschaftliche Studien Gegensichten, welche insinuieren, dass die LINKE auf eine Meinungsbasis in der BRD rekurrieren kann und damit als Willenskumulator und -artikulator erhalten bleiben dürfte.

Die leichte Öffnung der SPD nach links ist also ein zweischneidiges Schwert: Da die LINKE nicht verschwinden dürfte und die SPD eine weitestmögliche Koalitionsfähigkeit anstreben sollte um der Parteienfunktion im politischen System gerecht zu werden, muss sich die SPD zur LINKEN hin öffnen, mit ihr koalitionsfähig werden, oder zumindest das Drohpotenzial dieser Koalitionsoption glaubwürdig repräsentieren können.
Andererseits sollte die FDP nicht vergrätzt werden, setzt man - wie Kurt Beck - eher auf eine Sozial-Liberal-Ökologische Regierung. Dies wird durch einen bis dato vorhandenen Schwenk der FDP nach links begünstigt.

Der Parteitag bietet der SPD die Chance ihr Profil zu schärfen: Wird man bei der Diskussion der Bahn-Teilprivatisierung vergessen, dass die Bundestagsfraktion zusammen mit Bundesminister Tiefensee ein Privatisierung mit Direktverkauf im Gesetz zur Änderung der Eisenbahninfrastrukturunternehmen des Bundes zu 49,9 Prozent vorsah.(13) In diesem Sinne ist die Entscheidung des Parteitages ein Schlag ins Gesicht nicht nur für Tiefensee. Der gefundene Kompromiss ist aber ein gesichtswahrender, zeigte sich doch auf dem Parteitag eine Meinung, die dem grundlegenden Projekt der Privatisierung entgegenstand; verständlich nicht zuletzt durch den Umstand, dass Gründe dafür nicht gut erklärt bzw. einsichtig sind und Sachverständige von der vorgeschlagenen Art abrieten.

Auf diesem Gebiete, ebenso wie beim ALG I wird sich die SPD als "Retter des kleinen Mannes" gerieren können, fernab von Problemen bei Pflege, Bundeswehr, Innerer Sicherheit oder Mindestlohn.
Ein Problem hat sich die Union beim ALG I selbst eingehandelt, als sie auf dem Dresdner Parteitag der Verlängerung der Bezugsdauer im Rüttgers-Antrag zustimmte.

Festzuhalten bleibt, dass aus den Beschlüssen des Parteitages kein Linksruck der SPD geschlossen werden kann, vielmehr wurde den divergierenden Auffassungen der Delegierten Rechnung getragen. Wenn die SPD mittels leichter Linker Anwandlungen den Spagat zwischen Umverteilung von oben nach unten und Liberalisierung und angebotspolitischer Anpassung schafft, kann zumindest die LINKE wieder etwas in die Defensive gedrängt werden.

Was das Parteiensystem betrifft, so dürfte sich die LINKE auf absehbare Zeit etablieren, speziell ind Ostdeutschland war die vormalige PDS deutlich stärker verwurzelt als die SPD; im Westen ermöglicht ihr die WASG nun zu reüssieren.
Von rechts deutet sich momentan noch keine Alternative zur CDU an; ich rechne aber auf lange Frist mit der Etablierung einer neuen Partei am rechten Rand. Es gibt Pressemitteilungen und -auftritte der NPD die anzeigen, dass es Mitglieder dieser Partei gibt, die dies antizipieren und umzusetzen gedenken. Die CSU jedenfalls wird als bayrische Regionalpartei auf Dauer unfähig sein freiwerdende rechte Positionen neben der CDU zu bedienen.
Langfristig geht die Entwicklung somit zu einem sechs-Parteienssystem, was die Meinungslage noch diffuser gestalten könnte.

Die LINKE wird auf Dauer koalitionsfähig werden, die Option Rot-Rot-Grün ist eine Frage der Zeit, egal wie man inhaltlich dazu steht. Gerade weil sich die SPD zur Mitte orientiert.




(1): http://www.sueddeutsche.de/deutschland/artikel/588/133340/ letzter Zugiff: 04.11.07 17:00.

(2): http://www.sueddeutsche.de/deutschland/artikel/511/133263/ letzter Zugiff: 04.11.07 17:00.

(3): http://www.sueddeutsche.de/deutschland/artikel/625/139335/ letzter Zugiff: 04.11.07 17:00.

(4): http://www.bmas.de/coremedia/generator/16194/filter=Rubrik:Publikationen,Thema:Arbeitsmarkt/ergebnisse.html?Schlagwort=Hartz ; letzter Zugiff: 04.11.07 17:00.

(5): http://www.fr-online.de/in_und_ausland/wirtschaft/aktuell/?em_cnt=1233625 letzter Zugriff 04.11.07 17:20.

(6): http://www.nachdenkseiten.de/?p=2699 letzter Zugriff 04.11.07 17:30.

(7): http://parteitag.spd.de/servlet/PB/show/1732017/Bue_45_IA_6_Bahn_mit_Zukunft.pdf letzter Zugriff 04.11.07 17:40.

(8): http://parteitag.spd.de/servlet/PB/show/1731350/B%DC%2B36%2B_F14%2BKindergeldbezug%2Bbis%2Bzum%2B27%5B1%5D.Lebensjahr.pdf letzter Zugriff 04.11.07 17:40.

(9): http://parteitag.spd.de/servlet/PB/show/1731482/BUe23_I17Aufloesungsrecht_Bundestag.pdf letzter Zugriff 04.11.07 17:40.

(10): http://parteitag.spd.de/servlet/PB/show/1731343/B%DC%2B28%2B_I35%2BWahlrecht%2Bab%2BGeburt.pdf letzter Zugriff 04.11.07 17:45.

(11): http://parteitag.spd.de/servlet/PB/show/1731411/B%DC%2B47%2B_U37%2BPKW%2BAutobahnvignette.pdf letzter Zugriff 04.11.07 17:50.

(12): http://www.gruene-bundestag.de/cms/publikationen/dokbin/187/187655.pdf letzter Zugriff: 04.11.07 17:54.
13): http://dip21.bundestag.de/dip21/btd/16/062/1606294.pdf letzter Zugriff: 04.11.07 18:05.