Freitag, 9. März 2012

Gauccupy - #gauck, #occupy und Parlamentarismus


Als ich gestern die Nachdenkseiten überflog, bemerkte ich in den täglichen "Hinweisen" einen Verweis auf ein neues Buch von Albrecht Müller zum Thema Bundespräsident und Joachim Gauck.

Zunächst dachte ich an eine Art "Scherz", da ein roter Bucheinband mit Klappentext und Titel auf das weitere Lesen aufmerksam machen wollten; außerdem dachte ich nicht, dass es in der kurzen Zeit schon erste Bücher zum Thema gäbe.
Vielleicht wird gerade solches zukünftig "Ebooks" den Weg ebnen, lassen sich diese doch deutlich schneller und kostengünstiger produkzieren und vertreiben als gedrucktes Material.

Ohne das Buch oder den Webseiteneintrag (an-)gelesen zu haben, kamen mir noch einige kritische Würdigungen zum Thema Gauck in den Sinn. Ansatzweise versuchte ich das in meinem Beitrag "Jetzt kommt Gauck" bereits anzudeuten.


Auf SpiegelOnline (SPON) wurde vor geraumer Zeit über eine Äußerung Gaucks, er halte - sinngemäß - die "Occupy"-Bewegung für naiv bzw. "unsäglich albern".
Im Allgemeinen scheint er, wie viele Andere auch, einiges nicht verstanden zu haben.

So habe er, siehe SPIEGELOnline-Artikel, den "Traum von einer Welt, in der man sich der Bindung von Märkten entledigen könne" als "romantische Vorstellung" bezeichnet.
Nicht nur, dass "Romantik" hier im Gegensatz zu ihrer (Geistes-)Geschichte wieder einmal zu unrecht einseitig negativ konnotiert wird. Soetwas verkennt auch, dass es bei der Kritik an Banken und Finanzmarktakteuren keineswegs um die "Abschaffung der Märkte", also der "Entledigung" geht.
Vielmehr sollte man darauf hinweisen, dass es in einem System, in dem ein Akteur genötigt bzw. gezwungen ist oder sein soll einen anderen "zu retten", aus welchen Gründen auch immer, letztendlich und zuende gedacht kein "Wettbewerbssystem" ist und sein kann.
Nun wird wieder die "Alternativlosigkeit" kommen, man habe doch "retten müssen", damit nicht alles den Bach runter geht. Aber auch in dieser Hinsicht muss man die schlichte Realität zur Kenntnis nehmen: Den Banken, Versicherungen, etc. wurden 2008 ff. Mittel gegeben damit sie nicht vom "Markt", der eigentlich keiner mehr war, verschwanden.
Denn es gab ja keinen Interbankenhandel mehr, die Geldmärkte waren "trocken" und Risikoprämien hoch.
De facto kam es zu soetwas wie einem "frozen market" - gewisse Assets wurden nicht einmal mehr sinnvoll gepreist, ein "Handel" war somit ausgeschlossen.

Ein System, was die Akteure untereinander zu "Hilfen" oder "Rettungen" zwingt muss zwingend nicht nur im Sinne seiner eigentlichen Funktionsweise, sondern auch im Sinne des Wettbewerbscharakters und -gedankens defizitär sein.

Interessant ist die Einlassung und der entweder nicht erfasste oder absichtlich ignorierte/negierte Gedankengang Gaucks auch mit Blick auf die politik-, staats-, und wirtschaftswissenschaftliche Ideengeschichte: So war den (Neo)- und Ordoliberalen klar, dass "freie" bzw. "ungeregelte" Märkte letztlich nicht nur zur Vermachtung, sondern zu sich selbst aufhebenden und die Gesellschaft erpressenden Monopol- und Oligopolstrukturen führen (können).
Genau deshalb wurden Dinge wie Kartellrecht, Kartellgesetzgebung und Kartellämter angedacht, genau deshalb besann sich auch die aktuelle Verköperung, die FDP, auf diese Gedanken.
Denn dies ist einer der einzigen und wichtigen Bausteine, mit denen soetwas wie "Liberalismus der Verkörperung FDP" in Deutschland noch halbwegs solonfähig wäre bzw. sein könnte. Deshalb sollte deren Ziel die konsequente Rückbesinnung sein.
Für Gauck heisst das, dass er ignoriert oder bewusst verschweigt, was seine ihm geistig nahe stehenden Parteien und Vorschlagenden zur Bundespräsidentenwahl wissen und im Hinterkopf haben.
Gäbe es "effiziente Märkte" müsste man soetwas nicht strenger andenken und ggf. durchführen.

Selbst wenn man ihm zugute halten wollte, er habe seine "Romantizismus"-Kritik nur auf Occupy und auch nur auf mögliche Forderungen nach Kommunismen, Planwirtschaften, etc. bezogen, wird aus seiner Äußerung, die Debatte und deren grundlegende Bewegung sei "unsäglich albern" nichts Gutes mehr.
Die "Debatte" ist ja die "Bewegung" - ohne letztere gäbe es erstere nicht. Jedenfalls kann ich mich nicht erinnern, dass gewisse Dinge so öffentlich formuliert und diskutiert wurden, wie es seit Beginn der Proteste der Fall ist.
Selbst wenn dem nicht so wäre: Etwas grundlegenderes ist problematisch.

Eine Protestbewegung will meist keine "Lösung" für ein Problem bieten. Man könnte sich nun einfach auf die Position, es gäbe dafür schließlich "gewählte Volksvertreter" begeben und die Diskussion damit beenden bzw. abwürgen.
Das tun im Übrigen häufig die überschwenglichen Befürworter der repräsentativen Demokratie.
Eine Protestbewegung SOLL aber auch keine "Lösung" für ein Problem ausmachen, sondern zunächst nur artikulieren: "Hier sind wir und wir haben ein Problem". Oder auch nur "wir sehen ein Problem".
Menschen, die sich und ihr Leben, ihre Umstände und ggf. gewisse gesellschaftliche Probleme unterrepräsentiert sehen, finden sich zusammen.
Und jeder Einzelne sieht irgendwo Schnittmengen mit den Großzielen der Gesamtbewegung um seinen Namen und seine Zeit dafür einzusetzen.
In der DDR, als deren folgender "Bürgerrechtler" Gauck ja häufig gefeiert wird, gab es auch mindestens zwei, eigentlich noch mehr, Strömungen, die keinesfalls homogen mit möglichen Veränderungen des Systems umgehen wollten: Einige wollten die DDR ersatzlos abschaffen und die volle Vereinigung mit der BRD. Andere wollten im System selbst reformieren. Gerade letztere mussten sich auch damals schon die Vor- und Anwürfe gefallen lassen, dies ginge alles nicht, sei zu langwierig, niemandem sinnvoll erklärbar, es seien zu viele Kompromisse zu machen und daher wäre die erstere, grundsätzlichere Variante die Bessere.
Selbst wenn es Ansätze zur "Veränderung im System" gab, war es für deren Befürworter aufgrund des Verlaufs der Demonstrationen, der politischen Kultur, gesellschaftlicher und medialer Veränderungen und Einflüsse ungleich schwerer mit ihren Argumenten auch nur diskursiv durchzudringen. Von evtl. Realitätstests ganz abgesehen.

Wenn jemand, oder einige, aufstehen und zu Banktürmen der Stadt Frankfurt laufen - und in vielen Teilen der Erde geschah ähnliches, dann müssen diese Menschen keineswegs bereits wissen, was genau zu ändern ist.
Sie wissen aber wo ihnen der Schuh drückt, stehen im Gegensatz zu vielen anderen auf und zwingen uns als Gesellschaft und Medien sich mit etwas auseinander zu setzen - etwas neu zu verhandeln, etwas zur Kenntnis zu nehmen.
"Albern" ist das alles nicht, "unsäglich" gleich gar nicht.
Es ist ein elementares Recht demokratischer Gesellschaften, ihren Mitgliedern die Demonstrations- und Artikulationsfreiheit nicht "zuzubilligen", als sei es etwas, worum man bitten müsste.
Es ist ein elementares Recht, das nur in ganz bestimmten Fällen beschränkt werden darf.
Man muss "Occupy" nicht mögen, aber "unsäglich" ist das nicht.
Gerade wenn die meisten Menschen, aus welchen Gründen auch immer, nicht auf die Straße gehen spricht das noch nicht per se für ein "Funktionieren des parlamentarisch-repräsentativen" Systems, wie es immer mal wieder dargetan wird.
Und selbst wenn es so wäre: Erstens ist nichts jemals so gut, als könne es nicht verbessert werden. Zweitens ist es vollkommen egal, was ich oder Herr Gauck wie finden oder abstoßend erleben: Sofern sich eine kritische Masse Menschen zusammenfindet ist etwas Thema und Diskussionsnotwendigkeit, was vorher vielleicht (absichtlich) ignoriert werden konnte oder ignoriert wurde.
Bei "Occupy" ging es zentral zunächst um den Satz, die Masse sei "die 99%" und würde von "Einem Prozent" unterdrückt, kontrolliert, sanktioniert und obstruiert.
Betrachtet man sich Geschehnisse der letzten Jahre, wie auch ansatzweise oben, so kann man nicht zum Schluss kommen, dies sei gänzlich "weltfremd" oder "unsäglich".

Nun wurden Gaucks Äußerungen zu einer Zeit getätigt, da es vielleicht noch keine konkreteren Neu-Nominierungspläne für seine Person zum Amt des Präsidenten gegeben haben mag.
Man könnte also zugute halten, dies seien Äußerungen, die "nicht im Amt" getätigt worden seien und daher nicht unbedingt diskutiert werden sollten. Er könne sich ja "noch entwickeln" und später im Amt "anders äußern".
Bei Christian Wulff, seines Zeichens ehemaliger Bundespräsident, wurden aber auch nahezu nur Dinge diskutiert, die vor seiner Amtszeit geschehen waren oder angeblich geschehen seien, bewiesen ist ja noch kaum etwas, und die seine "Eignung für das Amt" infrage stellten bzw. angeblich infrage stellten.
Bei Gauck soll dies nun nicht gelten.
Was will man aber mit einem Menschen, der seine Äußerungen an das Amt anpasst? Der einen "präsidiablen" Sprech entwickelt, weil er das müsse und es dem Amt "besser zu Gesicht stünde"?
So jedenfalls sind Anmerkungen, man könne und müsse zu späterer Zeit womöglich nochmals über die Bewegung und deren Anliegen nachdenken, zu verstehen.

Es geht nicht um einen "Heiligen" - das war bspw. zu Guttenberg noch weit weniger als Wulff, schon weil es die zeitlichen Disparitäten auch im Sinne der ausgeübten Ämter gab. Wiewohl sie in beiden Fällen bis zuletzt betonten nicht nur gegen keine Gesetze verstoßen, sondern auch "keine Fehler" gemacht zu haben. Dies muss man wohl mindestens bei Guttenberg anzweifeln, der frühzeitig auf die Führung des Titels verzichten, Kleinlaut hätte bleiben sollen und seine Arbeit selbst hätte prüfen müssen.
Bei Wulff ist noch nichts erwiesen - theoretisch besteht noch die Möglichkeit, dass es letztlich keine handfesten Gründe für einen Rücktritt gegeben haben könnte.
Aber das interessiert schon lange nicht mehr, es wird wieder auf eine angebliche "Schnäppchen-Mentalität" verwiesen. Welch Wort, welch Bonmot in einem Land, in dem "Geiz" mal "Geil" war.
Klar, dass sich allewelt das Maul zerreißt.

Um so einen Menschen, der alles richtig macht und nie ein falsches Wort sagt, geht es nicht und kann es auch nicht gehen. Denn gerade was Rhetorik anbelangt, liegt "Falsch" noch weit mehr im Auge des interessegeleiteten Betrachters als im sonstigen Leben und anderen Bereichen.
Solche Maßstäbe anlegend müsste man folgerichtig an die Abschaffung dieses moralisch überhöhten Amts denken und sie auch endlich vollziehen.
Ironischerweise betreiben die Konservativen "Freude" u.a. Wulff bei der Selbstrettung und der Rettung ihrer angeblichen "Werte" genau das, was sie eigentlich nicht wünschen.

Gauck kann als Freund des Parlamentarismus, als dieser er aufgrund Art und Umfang seiner Nominierung durch Parteien gelten muss, auch die Art der Entscheidungsfindungen kaum kritisieren: Gibt es in den allermeisten Fällen doch soetwas wie "Pfadabhängigkeiten". Legitimiert wird ein Parlament durch Wahl, dieses wiederum wählt eine Regierung, welche Mitarbeiter wählt bzw. in Gremien wie die EZB, deren Direktorium, entsendet und mit eigenen Vertretern in supranationalen oder UN-Organisationen präsent sind.
Es sind die Fakten und Inhalte, mit denen er sich auseinander setzen müsste - genau das tut und will er aber nicht. Es geht um die Sicherung und rethorische Stabilisierung von angeblich angegriffenen und damit verteidigungsnotwendiger Systemfunktionen. Wie eben der repräsentativen Demokratie, die so einem "unsäglich albernen" Protest, als reine Willens- und Meinungsartikulation, selbstverständlich überlegen sei.
Schon etwas hochnäsig und selbstgerecht.
Dass es bei der damaligen "Bankenrettung", zulasten der Steuerzahler in aller Welt, auch Alternativen gegeben hätte, die evtl. weniger kostenlastig für viele und gewinnbringend für wenige, oder kostenträchtiger für die wenigen die vorher Profitierenden, gewesen wären oder hätten sein können - davon kommt nichts.
Dass man die "Verstaatlichung der Commerzbank" bei der "Kapitalspritze" von über 18 Mrd. EUR nicht als "stille Einlage" leisten musste, sondern auch direkte Unternehmensanteile, Aktien, hätte kaufen können, die sofort einen Anteil an evtl. Dividenden, Gewinnausschüttungen, Aktienkurssteigerungen für die Zukunft, Bonitätsregelungen im Aufsichtsrat, Beteiligungsverkäufe, etc. ermöglicht hätte - kein Kommentar. Vielleicht geht sowas zu weit und "interessiert" auch nicht.
Die Rolle Europas, der EU und Europäischen Kommission, die im Sinne eines abstrakten "Markt- und Wettbewerbssicherers" Beihilfen und Beihilfekriterien formuliert, Staaten zu gewissen Maßnahmen zwingt und andere verbietet - auch da keine größere Einlassung.

Da sind schlicht so viele Unklarheiten, so viele Ungewissheiten für eine "breite Masse", dass ihr Protest, der ja nur die Spitze eines Eisbergs ist und sein kann, ganz sicher nicht "unsäglich" ist.

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