Donnerstag, 22. Oktober 2009

Gabriels 'katastrophaler Zustand'

Ein Brandbrief von Sigmar Gabriel, designierter Parteivorsitzender der SPD, heute in der Onlineausgabe der Sueddeutschen Zeitung zusammengefasst.

Dabei schreibt er, die SPD befinde sich in einem "katastrophalen Zustand".
Weshalb eigentlich?
Was unterscheidet die SPD vom 21. Oktober 2009 von der SPD des Jahres 2009 oder 2008?
Eigentlich nur ein teilweise verändertes Personaltableau, weniger Parteimitglieder, gesunkende Staatliche Mittelzuweisung der Parteienfinanzierung und einem historisch schlechten Bundestagswahlergebnis.

Die Probleme in den Kommunen sind nicht neu, es gibt teilweise nicht einmal mehr Kandidaten, die auf einer Liste der SPD für ein kommunales Mandat kandidieren wollen.
Damit löst man aber keine Probleme der Bundespartei.

Um den jungen Nachwuchs ist mir im Gegensatz zu anderen nicht bang.
Es wird sich immer jemand finden, vermutlich werden die "Karrieristen" im Gegensatz zu den "Idealisten" weiter zunehmen.
Wobei man - was ich schon seit jeher verkünde - mit Glorifizierungen vorsichtig sein sollte.
Niemand gelangt an die und bleibt an der Parteispitze, ohne an anderen Stühlen zu sägen, Mehrheiten zu organisieren und zu intrigieren.
"Den Menschen" scheint dies zuwider zu sein und nahe liegt dies mit Blick auf die Reklamation des "Allgemeinwohl" durch die Politik und also die politisch Handelnden.
Doch sie sind so wenig gemeinwohlverhaftet oder -zentriert als die "freie Wirtschaft", die auch nicht so frei ist wie sie immer benannt wird.

"In der Fläche stattfinden" wie Budde heute in einem MDR.Info-Interview aussagte erreicht man durch zweierlei: Elite- und Breitenbildung.
Elitenbildung findet durch einie Akademien, u.a. im WBH statt. Mein Eindruck ist aber, dass diese später in Landes- oder Bundespolitik gehen.
Die Breite bleibt meiner Ansicht seit Jahren zurück. Einige Ortsvereine finden gar nicht mehr statt, existieren auf dem Papier und Erleichterungen bzgl. Ebenenfusionen wurden erst zögerlich und langsam eingeführt.
Eventuell muss hier etwas am Parteistatut getan werden.

Warum will in einer Kommune - zugespitzt - niemand mehr auf oder für die SPD kandidieren?
Zum ersten das grundsätzliche Defizit in der Bedeutungswahrnehmung dieser poltischen Ebene überhaupt: Was vor Ort passiert interessiert viele nicht oder sie haben keine Zeit sich damit zu beschäftigen oder nehmen an, andere täten dies für sie.
Wie in einem repräsentativen politischen System.
Bliebe die Frage, weshalb niemand von der SPD gewählt wird.
Weil es teilweise keine Kandidaten der Partei mehr gibt, manchmal fehlen selbst rudimentäre Strukturen.
Wie kommt man dem bei?
Geld in die Hand nehmen und in die Breite investieren, viel mehr fällt mir dazu nicht ein.
Die notwendigen Mittel dürften eher knapp sein, also müssen Menschen vor Ort mobilisiert werden.
Menschen, die sich auch nur entfernt vorstellen können etwas in oder für die SPD zu tun müssen deutlich bessere Unterstützung erhalten als bisher.
Dafür ist es unzureichend, ihnen Veranstaltungseinladungen nach Berlin zu senden; keinem kommunalpolitischen Mandatsanwärter nützt dies etwas.

Findet sich dann ein möglicher Kandidat sollte ihm gezeigt werden, wie Wahlkampf kommunal abläuft, weniger wie Arbeit im Stadtrat oder in Ausschüssen funktioniert.
Das Problem scheint mir kommunalpolitisch weniger zu sein, sich in einem Amt zu halten oder in dieses aufgrund mangelnder Kompetenz hineinzuwachsen.
Letzeres kann nahezu jeder und so sollte es auch sein.
Bedeutend schwieriger dürfte es sein, ins Amt zu gelangen, also einen an kommunalen Erfordernissen orientierten Wahlkampf zu führen.
Kommt ein evtl. Bewerber nicht aus einem größeren Unternehmen, verfügt also über keine größeren finanziellen Mittel, so ist er nahezu auf sich allein gestellt.
Folgend schließt sich schnell Resignation und Gleichgültigkeit ein.
Natürlich ist es falsch, einen Wahlkampf gänzlich ohne Zutun des Kandidaten zu führen, natürlich muss auch dieser sich den Menschen bekannt machen (wollen).

Doch sollten wir eines endlich einmal eingestehen: Es wird in den nächsten Jahren darauf ankommen, Menschen zu finden und zu begeistern, die in der eigenen Kommune weder sehr bekannt sind - diese dürften sich tendenziell für andere Parteien oder unabhänige Gruppen entscheiden - noch über größere Ressourcen verfügen.

Daraus folgt eine ganz andere Rekrutierungs- und Zuarbeit auf dieser Ebene.
Zuletzt wurden in Parteistrukturreformen ländliche Gebiete und Einrichtungen zugunsten größerer Einheiten aufgrund mangelnder finanzieller Machbarkeiten aufgegeben.
Man verhielt sich also prozyklisch, was auch zu einem Gutteil schlicht notwendig ist.
Allerdings muss es darüber hinaus ein antizyklisches Agieren geben.
Es darf eben nicht zum teilweise völligen Rückzug aus der Fläche kommen.
Wie eine flächendeckende Arbeit organisiert werden kann ist mir zwar auch noch nicht klar, doch vermute ich, dass vieles über das Internet und sog. soziale Netzwerke laufen wird.
Was eine (über-)regionale Kommunikation betrifft werden sie durch kaum etwas übertroffen. Veranstaltungsplanungen, Zu- oder Absagen sind so schnell zu realisieren wie kaum per Telefon oder E-Mail oder Brief/Fax.

Nur sind die Parteien noch viel zu stark im "instrumentellen" Internet angesiedelt.
Das meint eine Art "Internetwahlkampf" auf Bundes- und geringer Landesebene.
Dies macht gerade für die Bundesebene durchaus Sinn, hilft hernach für die kommunale Ebene aber gar nichts.

Ein von mir lange gehegtes Petitum ist das Streaming von Gremiensitzungen.
Wenn kein aufwendiges live-streaming, dann Aufnahme und Zurverfügungstellung per Youtube oder mittels anderer Instrumente.
Wenn ich unterwegs bin kann ich nicht an Ortsvereinssitzungen teilnehmen, obgleich ich dies gerne täte.
Mir böte es die Möglichkeit stets nahe an den Diskussionen vor Ort zu sein. Schließlich diskutiert man auch landes- und bundespolitisch.
Etwas anderes in diesem Zusammenhang fehlt aber auch völlig: Die Vernetzung der unteren und untersten Ebenen der Partei.
Welcher Ortsverein weiß schon zeitnah, ob ein anderer gerade etwas thematisch ähnliches diskutiert, man einander einladen oder eine Koferenz abhalten könnte?
Wer weiß schon, ob ein Ortsverein in NRW nicht gute oder sinnvolle Ansätze für Probleme fand, die denen in Sachsen nicht unähnlich sind?
Fehlt da nicht vollkommen der Informationsfluss untereinander?
Meines Wissens läuft das u.a. über Kreisvorsitzende, doch finde ich diese Informationsverbreitung asymmetrisch und hierarchisiert. Die Reibungs- und Ebenenverluste sind hoch.

Zumindest die Aufnahme und Einsichtgabe von Ortsvereinssitzungen ließe sich satzungsmäßig regeln; hier ist ja in keiner Weise die Weitergabe an eine Öffentlichkeit angesprochen, obgleich prinzipiell jede Sitzung öffentlich ist außer etwas gegenteiliges wurde besprochen.
Somit könnte man es handhaben wie bei Stadtratssitzungen: Eine Zustimmung zur Aufnahme und Übermittlung an die Mitglieder.
Solches fände ich authentischer und bedeutend einfacher als jemanden anrufen und sich seine eigene Sicht der Diskussionen erklären lassen zu müssen.

Eventuell sollte darüber nachgedacht werden, kleinere "Teams" zu mobilisieren und in unterbesetzten Regionen dauerhaft einzusetzen.
Angenommen in einem Ortsverein gibt es drei oder vier interessierte Leute, in zwei oder drei anderen aber niemanden oder sehr wenige. Vielleicht fehlte letzteren auch nur eine gewisse Motivation oder strukturelle bzw. finanzielle Hilfe.
Die drei oder vier genannten sollten also Hilfestellung und Kompetenz erhalten, die anderen Ortsvereine und ggf. vorhandene Miglieder aufzusuchen und entweder an der Reinitialisierung der Struktur oder einer Eingliederung in ihren Ortsverein zu arbeiten um eventuell verbliebene Mitglieder aufzufangen bis sie ganz in Apathie abwandern.


Einen Gedanken deute ich hier zunächst nur einmal an; er ist aus einer "Normativität des Faktischen" in Verbindung mit dem Hang zum längstmöglichen Erhalt des Status Quo geboren:
Die (großen) Parteien werden sich überlegen (müssen), ob sie die staatliche Parteienfinanzierung nicht modifizieren und sich selbst deutlich höhrere Einnahmen zu garantieren oder wenigstens stabilisieren.
Ansonsten müssten die "kleinen Parteien" wie Grüne oder FDP in die Fläche gehen oder die von einigen herbeigesehnte sogenannte "Bürgergesellschaft" fände ihren Höhepunkt im Flächenverlust der großen Parteien mit der Folge von Konkurrenz durch "Freie Wähler" und andere Vereinigungen.
Die "Gefahr" aus Sicht großer, etablierter Parteien ist klar: Je besser solche Vereinigungen augenscheinlich funktionierten, desto wahrscheinlicher werden sie sich auch auf höheren Ebenen etablieren und durchsetzen.
Radikal gesehen könnte das zur Auflösung einiger Parteien führen, wenn die selbst-gewählten "Nicht-Parteien" diesen Pathos beibehalten könnten und nicht gestellt würden.

So könnte man auch eine ganz andere These aufstellen: Die größte Gefahr für die "Volksparteien" geht nicht von der NPD oder anderer rechtsextremer/-radikaler Parteien aus, sondern von Wähervereinigungen, die es erfolgreich verstehen sich als "nicht-Parteien" zu gerieren.


Was lernen wir aus dem Gabriel-Brandbrief noch?

Ich äußerte vor Jahren auf einer Konferenz halb ernst, halb humorig die Auffassung, bald müssten zumindest wichtige Personalien innerhalb der Partei durch innerparteiliche Mitbestimmung größerer, breiterer Art bestimmt werden.
Bislang wurden Parteivorsitzende bspw. durch Parteitage gewählt.

Dabei stellt Gabriel etwa das Mittel der Urabstimmung "ab und an bei wichtigen Entscheidungen" in Aussicht.
Meiner Ansicht nach spricht wenig dagegen, bspw. den Parteivorsitz durch eine Urwahl der gesamten Mitgliedschaft bestimmen zu lassen.
Dabei ließen sich Kosten sparen, wenn man den Mitgliedern Abstimmungen auf gesicherten Internetseiten ermöglichte - mittels eindeutiger Indentifikationsnummer, Sicherheitszertifikat und SSL-Verschlüsselung sollte dies machbar sein.
Die Möglichkeit des einzelnen Mitglieds in einem bestimmten Zeitraum, oder an einem Tag, nur ein Mal abstimmten zu können ist sehr leicht umsetzbar.
Ansonsten ließen sich postalische Anschreiben versenden.

Für eine Zunahme an demokratischer Willensbildung, womöglich zweckgebunden, ließe sich ebenfalls über eine Erhöhung staatlicher Parteienfinanzierung nachdenken, schließlich wäre das Vermittlung gelebter Demokratie wie sie von anderen Vereinen nur noch selten vorgenommen wird.
Eine Besserstellung rechtfertigte dies durchaus.

Zwei Dinge des Briefes nur kursorisch kommentiert:

"Die Wahrheit ist doch", schrieb Gabriel, "dass sich die SPD in den letzten Jahren tief gespalten hat in Flügel."
Richtig.


"Wenn wir die SPD nicht endgültig zerstören wollen als Volkspartei, dann muss damit endlich Schluss sein."
Falsch.

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